Redebeitrag auf der antikapitalistischen Demonstration am 22. Dezember 2012 in Mannheim
Eine alte linke Weisheit besagt, dass das Proletariat kein Heimatland habe. Und doch zogen die Proletarier_innen aller Länder 1914 begeistert für ihre Nation in den 1. Weltkrieg und schlachteten reihenweise ihre “Klassenbrüder” ab, anstatt – wie Karl Liebknecht forderte – sich zum internationalen Klassenkampf zu erheben und den Hauptfeind im eigenen Land zu bekämpfen.
Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus zeigte sich erneut, welche Anziehungskraft das Konzept der Nation gerade auch auf die Lohnabhängigen ausübte. Spätestens mit der scheinbaren Aufhebung des Klassenantagonismus in der sich real konstituierenden und alle Klassen umfassenden deutschen Volksgemeinschaft brach sich das Konzept der Nation in seiner radikalen völkischen Variante auf verheerende Weise bahn. Jüd_innen, Sinti und Roma, Homosexuelle, Nicht-Weiße, religiöse Minderheiten, Linke, Antifaschist_innen und alle Anderen die sich nicht in die nationale Volksgemeinschaft einreihen wollten oder konnten, wurden gnadenlos verfolgt, eingesperrt, gefoltert und ermordet.
Das Problem aber allein bei einem sogenannten rechten Rand, also bei Neonazis und anderen Neofaschisten zu suchen, greift zu kurz. Auch die momentan wohl weiter verbreitete republikanische, bürgerliche Variante des Nationalismus – oft als Patriotismus verharmlost – erzeugt am laufenden Band Leid, Elend und in letzter Konsequenz Tote. Diejenigen, welche sich nicht für den Wirtschaftsstandort ins Zeug legen können oder wollen, werden gnadenlos schikaniert. Falls man sie nicht einsperren und/oder abschieben kann, werden sie zur modernen Form von Zwangsarbeit, den sogenannten 1€-Jobs oder andere Zwangsmaßnahmen gezwungen.
Migrant_innen, welche sich dem elenden Leben in ihren Herkunftsregionen entziehen wollen und in der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben Richtung globaler Norden ziehen, treffen auf eine mit Stacheldraht und Mauern bewehrte Festung Europa bzw. Nordamerika. Falls sie die Einreise erfolgreich überstehen bzw. überleben, werden sie von den lokalen Rassist_innen und Nationalist_innen am Stamm- oder Schreibtisch angefeindet, verfolgt, eingesperrt oder ermordet.
Der Unterschied zwischen dem völkischen Nationalismus der Nazis und dem bürgerlichen Nationalismus (aka “Patriotismus”) der Restbevölkerung mag praktisch zwar bedeutsam sein, theoretisch jedoch ist es nur ein Gradueller. Nationalist_innen aller Couleur müssen sich immer die Frage stellen, wer zur eigenen Nation gehört und wer nicht. Die Nazis – eben dieser Gesellschaft entwachsen – radikalisieren das, der bürgerlichen Gesellschaft immanente, Konzept der Nation nur.
Auch die Gewerkschaften, welche nach Außen hin vorgeben, die Interessen der Lohnabhängigen zu vertreten, kochen – insbesondere der deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) – ihr eigenes nationales Süppchen, anstatt über die Grenzen hinweg solidarisch zu kooperieren. Als am 14. November der Europäische Gewerkschaftsbund zu einem – maßgeblich von Gewerkschaften in Spanien und Portugal initiierten – europaweiten Generalstreik aufgerufen hat, beteiligte sich der DGB zwar, jedoch nur rein symbolisch und mit geringer Mobilisierungsarbeit. Die deutschen Gewerkschaften versuchen in ihrer Theorie und Praxis nicht einmal den Kapitalismus zu kritisieren, sondern landen – trotz aller internationalistischen Phrasen – mit ihrem Konzept der “Sozialpartnerschaft”, welches auf einen Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit abzielt, zwingend in der nationalistischen Falle und vertreten anstatt den Interessen der weltweiten Lohnabhängigen, lieber die des Standorts Deutschland. Das Ganze aber nicht, wie man denken könnte, gegen den Willen der meisten deutschen Arbeiter_innen, sondern gerade mit ihrer vollen Zustimmung.
So sehr das Konzept der Nation objektiv den Interessen der Lohnabhängigen zu widersprechen scheint, ist es doch so sicher wie das Amen in der Kirche, dass diese, besonders in Krisenzeiten, fest geschlossen hinter ihrer Nation stehen. Für eine antiautoritäre Linke, die den nationalen Burgfrieden kippen will, ist daher die Beantwortung der Frage, warum der Nationalismus auf die Menschen so anziehend ist, essentiell.
Die Individuen sind in der bürgerlichen Gesellschaft gleichzeitig auch immer bürgerliche Subjekte. Das heißt, auf der einen Seite Warenmonaden (Bourgeois), also Wirtschaftssubjekt welche entweder Kapital verwerten oder ihre Arbeitskraft – als ihr einziges Gut – verkaufen müssen und Staatsbürger_innen (Citoyen). Als Staatsbürger_innen sind sie immer Bürger eines konkreten Staates, sie müssen also auch immer gezwungenermaßen die Nation als konkretes Faktum akzeptieren. Setzt man sich nicht in ein kritisches Verhältnis zur kapitalistischen Produktionsweise (wie zum Beispiel dem Zwang zur Kapitalakkumulation, also zur zwanghaften Verwertung des Wertes) und dem der warenproduzierenden Gesellschaft erwachsenden fetischisiertem Bewusstsein (Marx), welches gesellschaftliche Verhältnisse (wie das des Wertes) als “natürliche” Eigenschaften der Dinge erscheinen lässt, ist es also nur folgerichtig dass man als Wirtschaftssubjekt (Bourgeois) innerhalb jenes fetischisierten Bewusstseins die Existenz des Staates – als Garant des Privateigentums und damit auch des reibungslosen Ablaufes der Kapitalverwertung und des Warentausches (also auch der Möglichkeit seine Ware Arbeitskraft gegen “Lohn” zu tauschen) – und – in der Rolle des Staatsbürgers (Citoyen) – also auch die Nation, als zwingend notwendig für die je individuelle Reproduktion innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ansieht.
Der Nationalismus als solcherart zwingend notwendige Ideologie für die Liebhaber von Kapital und Staat erfüllt auch individualpsychologisch eine wichtige Funktion für die Individuen. Das in der bürgerlichen Gesellschaft immer drohende Überflüssigwerden, also der Verlust der Möglichkeit der eigenen Reproduktion in Form des Verkaufes der eigenen Arbeitskraft durch Arbeitslosigkeit (sei es durch Krankheit, Alter oder der nächsten Wirtschaftskrise) und der dadurch immer latent vorhandenen existentiellen Angst weckt in den bürgerlichen Subjekten das Verlangen in der scheinbar sicheren und natürlichen (Bluts)Gemeinschaft der Nation und/oder des Volkes Schutz und Solidarität zu suchen. Diese Gemeinschaft der Nation bzw. des Volkes erlaubt den Subjekten ihr Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen, denen man sich ausgeliefert fühlt, zu befriedigen. Gesellschaftliche Widersprüche werden in eine Form einfacher Innen-Außen-Widersprüche (z.B. “Deutscher” – “Ausländer”) transformiert. So wird die Arbeitslosigkeit den zugezogenen Migrant_innen und nicht der Funktionsweise des Kapitalismus angelastet. Als Lösung des Problems erscheint den Nationalist_innen nun die Vertreibung der Migrant_innen. Völkischer und “demokratischer” Nationalismus unterscheiden sich dabei nur in der Wahl der Mittel. Die einen töten mit Brandsätzen und Schusswaffen; die Anderen mit Asylgesetzen und Abschiebungen.
Wenn wir als antiautoritäre Linke mit dem Projekt einer herrschaftsfreien Gesellschaft ernst machen wollen, müssen wir uns über die Schwierigkeiten der Emanzipation von Kapital und Staat klar werden. Wir müssen erkennen, dass der Nationalismus kein Instrument irgendeiner herrschenden Klasse ist, um die Lohnabhängigen zu spalten. Die Lohnabhängigen sind keine Opfer des Nationalismus, sondern oft dessen vehementeste Verteidiger. Eine revolutionäre Praxis kann daher nur antinational sein!
Dabei müssen wir uns aber davor hüten, in einen abstrakten Antinationalismus zu verfallen. Zwar stellt jede Form des Nationalismus einen Angriff auf das schöne Leben dar, jedoch hat jede Nation ihre eigene Vergangenheit und gehört auf der Basis des oben gesagten eigenständig kritisiert. Es gibt eben einen Unterschied zwischen dem deutschen, völkischen Nationalismus, der in der Shoa seinen Höhepunkt fand, dem israelischen Nationalismus – dem Zionismus – der sich als Reaktion auf den deutschen Nationalismus und den Antisemitismus entwickelte oder einem Nationalismus republikanischer Prägung wie wir ihn beispielsweise in den Vereinigen Staaten finden können.
Für unsere politische Praxis im hier und jetzt gilt also immer noch die alte Weisheit Karl Liebknechts in etwas abgewandelter Form: “Der Hauptfeind ist das eigene Land!” Wollen wir also unsere Genoss_innen in Spanien, Portugal, Griechenland, Italien und Andernorts in ihren Kämpfen um Befreiung unterstützen, dann müssen wir den nationalen Burgfrieden brechen und den Standort Deutschland sabotieren, wo wir nur können.
Deutschland in den Rücken fallen! Für den libertären Kommunismus!