Einen Übersichtsartikel für den Tag gibt es auf linksunten.
Aufruf zur revolutionären 1. Mai Demonstration 2014 in Freiburg
Der Kapitalismus steckt nunmehr seit über sechs Jahren in seiner schwersten Krise seit 1929 und mit ihm auch die Staaten der Europäische Union. Viele Menschen sind durch die Krise in eine extrem prekäre ökonomische Lage geraten. Sie haben Arbeitsplätze, Wohnungen, Renten und damit einhergehend auch ein bisher gewohntes Leben verloren.
Doch anstatt sich mit den tatsächlichen Ursachen der Krise zu befassen wird in Deutschland und anderswo auf einfache Erklärungen zurückgegriffen. Die Verantwortung für die Krise wird stets bei bestimmten Gruppen gesucht, nicht in in der Funktionsweise des Kapitalismus selbst. Neben den „gierigen Bankern“ sind diese Gruppen meist die „Anderen“ – wahlweise die „faulen Griechen“, „Sozialschmarotzer“ oder Migrant*innen1. Die Rückbesinnung auf traditionelle Werte, die Sehnsucht nach einer Zeit, in der angeblich „alles besser war“ geht auch einher mit einer zunehmenden Renationalisierung und einem verstärkten Rassismus in Deutschland und Europa. So warnen deutsche Politiker*innen vor einer Zuwanderung in die Sozialsystem, das Schreckensszenario einer Zuwanderungswelle aus Osteuropa wird beschworen, gleichzeitig werden mit „gut gemeinten Ratschlägen“ den südeuropäischen Ländern weitere drastische Sparmaßnahmen verordnet.
Doch diese Wirtschaftskrise ist nicht wie oft behauptet das Werk einiger gieriger Banker und hemmungsloser Spekulanten. Die Ursachen der Krise liegen vielmehr in der Funktionsweise der kapitalistischen Ökonomie. Die immer größer werdende Schuldenberge der europäischen Staaten sind zwingend notwendig für ein Fortbestehen dieses Wirtschaftssystems. Der heutige Kapitalismus ist auf eine Defizitkonjunktur – also einem temporären Wirtschaftsaufschwung der durch Schulden finanziert wird – angewiesen.
Die Krise des Kapitalismus
Das kapitalistische System hat einen großen Fehler: Es ist zu produktiv! Die Krise des Kapitals ist seinem Zwang zur unablässigen Akkumulation – also aus Geld mehr Geld zu machen – geschuldet. Die Produzenten stehen untereinander in stetiger Konkurrenz um Abnehmer für ihre Produkte und sehen sich bei Strafe ihres ökonomischen Untergangs gezwungen, in neue Technik, mehr Maschinen, mehr Angestellte u.Ä. zu investieren, um eine Produktivitätssteigerung herbeizuführen und den unliebsamen Konkurrenten so Marktanteile zu entreißen.
Durch die fortschreitende Technisierung und Automatisierung der Produktion wird die menschliche Arbeitskraft zunehmend überflüssig. Die Rationalisierungsmaßnahmen führen dazu, dass der Anteil der Lohnarbeit stetig kleiner wird. Gleichzeitig entsteht eine immer größere Masse an Arbeitslosen. So wie nun gleichzeitig der sogenannte konstante Anteil des Kapital, also die Wertmasse des Maschinenparks (man denke hierbei nur an die hochtechnisierten und automatisierten Fertigungstrassen in der Automobilindustrie), ansteigt, fällt der Anteil des variablen Kapitals, also der Anteil an lebendiger Arbeit, sprich die Anzahl angestellter Arbeiter*innen. Da aber die lebendige Arbeit die alleinige Quelle des Mehrwertes und damit auch des Profits ist, sinkt die Profitrate mit dem Fortschreiten der technischen Entwicklung stetig. Gleichzeitig werden durch die anhaltende Produktivitätssteigerung immer mehr Produkte auf den Markt geworfen, welche sich aber nicht mehr verkaufen lassen, da die potentiellen Käufer – z.B. durch Arbeitslosigkeit – dazu keine Mittel mehr haben. Der geschaffene Wert kann nicht mehr realisiert werden, wir haben eine Überproduktionskrise.
Historisch wurden diese aufgrund der fortschreitenden technischen Entwicklung entstehenden Krisen durch die gleichzeitig entstehenden neuen Schlüsselindustrien – die neue Investitionsfelder boten und neue Arbeitsplätze schufen – aufgefangen. Auf die Textilindustrie folgte die Schwerindustrie, darauf die Chemieindustrie, ihr die Elektroindustrie und ihr die Fahrzeugindustrie. Mit der neusten Stufe der technischen Entwicklung funktionierte diese Modell jedoch nicht mehr. Die Entwicklung im Bereich der Mikroelektronik sowie der Informationstechnologie revolutionierten die Produktion: Durch den flächendeckenden Einsatz von Computern und Robotechnik werden immer weniger Arbeiter*innen gebraucht um immer mehr Waren herzustellen.
Krise der Arbeitsgesellschaft
Dies hat eine kontinuierlich steigende Arbeitslosigkeit, sowie eine allgemeine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und ein stagnierendes Lohnniveau zur Folge. Gleichzeitig steigen die Kosten von Infrastruktur, für die (Aus)Bildung des Personals, sowie der Investitionen in den Produktionsapparat. Der erwartbare Profit in der sogenannten „Realökonomie“ wird immer kleiner.
Rolle der Finanzmärkte
Hier kommen nun die Finanzmärkte ins Spiel. Indem sie eine kreditfinanzierte Massennachfrage erzeugen und so die potentielle Überproduktionskrise hinauszögern, halten sie den Kapitalismus weiter am Laufen. Das seit den 1980er Jahren zu beobachtende Anwachsen der Finanzmärkte hängt eng mit der Krise der Arbeitsgesellschaft zusammen. Da der Profit, der mit Warenproduktion in der Realwirtschaft erzielt werden kann, immer kleiner wird und das Kapital sich immer dorthin bewegt wo der höchste Profit zu erwarten ist, wurde massiv in Finanzmarktwaren (wie Spekulationen) investiert. Dies ist eben nicht der vermeintlichen Gier der Banker zuzurechnen, sondern dem Wesen des Kapitals – aus Geld mehr Geld zu machen. Spätestens ab den 1990er Jahren ist die Finanzbranche zur neuen Schlüsselindustrie geworden.
Die systemisch erzeugte Überproduktionskrise und die mit ihr verbundenen ökonomischen Verwüstungen konnte nur durch die Expansion der Finanzmärkte und durch ständig neue Spekulationsblasen (1997/1998 Asienkrise, 2000 Dotcom-Blase, 2008 Immobilien-Blase) aufgeschoben werden.
Durch das Platzen der Immobilienblase 2008 wurden massive staatliche Hilfsmaßnahmen für die Finanzmärkte notwendig. Dabei wurde eine Abwälzung der Krisenverluste auf die lohnabhängige Klasse forciert. Diese „Bankenrettung“ hatte eine rasant ansteigende Staatsverschuldung zur Folge.
Die Stabilisierung der Finanzmärkte wurde durch eine staatliche Verschuldung auf eben diesen Finanzmärkten erkauft. Das bedeutet im Klartext, dass auf einen Staatsbankrott notwendig auch ein Bankrott der Gläubiger, also der Banken, sowie auf deren Bankrott das Durchschlagen der seit den 1970er Jahren aufgeschobenen Überproduktionskrise folgt.
Die Ursachen der derzeitigen Krise liegen also nicht im Finanzsektor, sondern in der Funktionsweise des Kapitalismus selbst!
Staatliche Antwort auf die Krise
Die Staaten können die Krise nicht lösen, sondern nur hinauszögern. Ihnen stehen dabei zwei Optionen zur Verfügung:
1) Durch eine weitere Staatsverschuldung wird der wirtschaftliche Absturz temporär verhindert, gleichzeitig treibt der Staat in die Inflation. Irgendwann müssen die Gelddruckmaschinen angeworfen werden um die immer höhere Schuldenlast zu begleichen. Diesen Weg beschreiten zur Zeit die USA.
2) Die Schulden müssen durch drakonische Sparmaßnahmen abgebaut werden. Dies führt zu einem totalen ökonomischen Einbruch der betroffenen Volkswirtschaften und einer um sich greifenden Verelendung der Gesellschaft. Dies Antwort auf die Krise wird in Europa – vorangetrieben von Deutschland – im Moment durchgesetzt.
Doch beide Varianten der aktuellen Krisenpolitik können die systemische Krise des Kapitalismus nicht lösen. Dies bestärkt irrationale und chauvinistische Antworten auf die Krise. Reaktionäre Krisenlösungen wie sie Rechtspopulisten, Neofaschisten und Islamisten bieten, gewinnen in Europa an Popularität.
Falsche Wege aus der Krise – Suche nach Eindeutigkeit in einer widersprüchlichen Gesellschaft
Die inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise manifestieren sich in den menschenunwürdigen Zuständen, die wir tagtäglich erleben. Die Phänomene, die sich aus diesen Widersprüchen ergeben – Armut, Hunger, mangelhafte medizinische Versorgung, mangelnder Wohnraum und Obdachlosigkeit trotz immer weiter wachsenden Wohlstands – lösen bei vielen Menschen den Wunsch nach eindeutigen, einfachen Lösungen aus, die Antworten auf ihre realen Abstiegserfahrungen und ängste bieten. Sie wünschen sich eine Auflösung der Widersprüche der modernen Gesellschaft. Diese Krisenideologien nehmen unterschiedliche Formen an, doch sie weisen auch Gemeinsamkeiten auf. Alle appellieren an eine vermeintlich bessere Vergangenheit, in die man „zurückkehren“ soll. Die Krisen der Moderne verstehen sie nicht als logische Konsequenz kapitalistischer Akkumulation, sondern als Folge einer Störung eines scheinbar „natürlichen Zustandes“ – sei es die Gefährdung der „gesunden Sozialen Marktwirtschaft“ durch unverantwortliche Spekulanten, die Schädigung der „Volkswirtschaft“ durch den Weltmarkt oder die Zersetzung nationaler Kultur und Werte durch Migration. Sie machen die gesellschaftlichen Eliten für einen „Verrat am Volkswillen“ verantwortlich. Die Widersprüche, die der Kapitalismus hervorbringt, werden im Rechtspopulismus auf die EU oder eine vermeintliche links-grüne Mehrheit, im Rechtsradikalismus auf Migrant*innen und im Islamismus auf einen Mangel an Religion projiziert. Doch alle diese Krisenideologien verkennen den systemischen Charakter der Krisen. Die tatsächlichen Krisenerfahrungen und die Entfremdung des Menschen in der Moderne sind nicht das Werk einiger bösartiger „Krämerseelen“, sondern logische Folge der kapitalistischen Vergesellschaftung.
Größter Beliebtheit unter Anhänger*innen sozialchauvinistischer und rassistischer Krisenlösungsideologien erfreut sich in der BRD der 2010er Jahre nach wie vor Thilo Sarrazin, ehemaliger Berliner Finanzsenator und einstiges Vorstandsmitglied der Deutschen Bank. Seine „Tipps“ für Hartz-IV-Empfänger*innen, in denen er Menschen erklärt, wie sie angeblich mit 4€ am Tag leben könnten, sowie sein Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ und dessen größtenteils positive Rezeption, zeugen von krassem Chauvinismus gegenüber sozial und finanziell schlechter Gestellten sowie rassistischen Vorurteilen gegenüber Migrant*innen. Es wird angenommen, dass Hartz-IV-Empfänger*innen und Migrant*innen die deutschen Sozialsysteme gezielt ausnutzen und überfordern würden und der Staat dementsprechend mit einer Begrenzung von Transferleistungen und Einwanderung reagieren müsse. Dabei wird ein falsches Bild von massenhafter „Armutsmigration“ gezeichnet. Dem wiederum wird ein „deutscheres Deutschland“ früherer Jahre als positives Gegenmodell entgegengesetzt.
Ähnlich menschenverachtende „Wege aus der Krise“ bietet die konservativ-nationalistische, neoliberale und bisweilen christlich-fundamentalistische Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD), ein Sammelsurium aus Unzufriedenen aller Art – von offenen Neonazis bis hin zu gemäßigt Eurokritischen – das bei der Bundestagswahl 2013 nur knapp an der Fünfprozenthürde scheiterte. In Wahlkampfaussagen wie „Die Griechen leiden – Die Deutschen zahlen – Die Banken kassieren“ manifestiert sich die Vorstellung von „den ehrlich und hart arbeitenden Deutschen“, den „faulen“ bzw. „unfähigen“ Ländern und Bevölkerungen des südlichen Europas, den „gierigen Bank(st)ern“ und dem eigenen „ehrlichen“ und „sozialen“ Anspruch. Das sozial-chauvinistische Denken von „faulen Arbeitslosen“ und fleißigen „Leistungsträgern“ spiegelt sich in dem Vorschlag Konrad Adams, einem hochrangigen Parteifunktionärs der AfD, wider, der in einem Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“ vorschlug, Arbeitslosen das Wahlrecht zu entziehen. Aber auch mit homophoben, heteronormativen und sexistischen Äußerungen macht die AfD immer wieder von sich reden. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Ausspruch des Parteivorsitzenden Bernd Lucke, der nach dem „Coming-Out“ des ehemaligen Fußball-Nationalspielers Thomas Hitzlsperger seiner „Enttäuschung“ Ausdruck verlieh, dass dieser nicht darauf verwiesen hätte, dass die heterosexuelle Ehe und Familie die „Keimzelle der Gesellschaft“ sei.
Auffassungen wie diese sind ein Paradebeispiel für menschenverachtende Trugschlüsse, die entstehen können, wenn sich lediglich mit den Erscheinungsformen gesellschaftlicher Widersprüche, nicht jedoch mit deren Ursachen auseinandergesetzt wird.
Auch Neofaschisten versuchen mit zunehmendem Erfolg aus der aktuellen Krise Profit zu schlagen. Beispielhaft kann diese Entwicklung an der Partei „Völkischer Bund Goldene Morgenröte“ (Chrysi Avgi) in Griechenland festgemacht werden. Gegründet 1985 und ab 1993 als Partei registriert, blieb die Partei bis 2012 eine politische Randerscheinung. Dann jedoch zog sie mit 6,92 Prozent direkt ins griechische Parlament ein. Seitdem steigt ihre Popularität beständig. Nach aktuellen Umfragewerten für die Europawahl 2014 steht die Partei zwischen 10 und 17 Prozent und kann ihr Ergebnis von 0,5 Prozent von 2009 somit vervielfachen. Erklärtes Ziel der Partei und ihre Lösung für die Krise ist ein autonomes, ethnisch reines Griechenland. Als Modell hierfür sieht die Partei einen sogenannten griechischen Nationalsozialismus, der nach eigenen Angaben seinen Ursprung in der griechischen Antike haben soll. Hierbei setzen die Parteiideolog*innen die antike griechische Kultur mit dem Faschismus gleich. Das geht soweit, dass behauptet wird, Platon würde den Aussagen Mussolinis zustimmen, wenn er noch leben würde. Die sozialen Verwerfungen der griechischen Gesellschaft seit dem Zusammenbrechen der wirtschaftlichen Strukturen 2010 kann grundsätzlich als Wegbereiter für den drastischen Aufstieg der griechischen Faschist*innen gesehen werden. Seit ihrer Gründung gelangt die Partei regelmäßig mit aufgrund von brutaler Gewalt in die Schlagzeilen. So stellt sie sogenannte zivile „Patroullien“ auf, welche ausgerüstet mit Motorrädern und diversen Waffen, nachts Jagd auf Migrant*innen und Linke machen. Von staatlicher Seite haben sie wenig zu befürchten. Nach aktuellen Umfragen stehen 35 Prozent der griechischen Polizist*innen der Goldenen Morgenröte politisch nahe. Im September 2013 ermordeten Parteimitglieder den linken griechischen Musiker Pavlos Fyssas (Killah P) vor einer Kneipe in Athen. Die Goldene Morgenröte ist zudem für zahlreiche Morde an und Übergriffe auf Migrant*innen verantwortlich.
Chrysi Avgi ist des Weiteren führendes Mitglied des Bündnisses der Europäischen Nationalen Front. Dort sind seit 2004 die NPD, die italienische Forza Nuova, die rumänische Noua Dreapta, Chrysi Avgi und weitere faschistische Organisationen zusammengeschlossen, um den Faschismus als europäische Idee wieder zu etablieren. Was die verschiedenen Gruppen vereint, ist ihre Rückbesinnung auf eine positiv wahrgenommen nationalsozialistische Vergangenheit, welche als Vorbild für zukünftige Lösungen dient: Die NPD mit ihrem offenen Bezug auf den linksnationalsozialistischen Flügel der NSDAP oder die rumänische Noua Dreapta mit ihrem erklärten Ziel des Wiederaufbaus von Großrumänien. Trotz persönlicher und inhaltlicher Überschneidungen gibt es dabei klare Unterschiede zu rechtspopulistischen Parteien. Sei es die Vorstellung einer völkischen Gemeinschaft als krisenfestes Modell gegen die falsch verstandene Moderne, das paramilitärisches Auftreten oder die grundlegende Ablehnung der bürgerlichen Demokratie. Beide in einen Topf zu werfen, birgt die Gefahr der Relativierung der faschistischen Ideologie.
Auch der Islamismus als Gegenentwurf zur kapitalistischen Moderne findet immer größere Zustimmung. Die Rede von der vermeintliche Zersetzung der Umma durch den sogenannten westlichen Kulturimperialismus eignet sich hervorragend, um den reale Konflikte des postmodernen Zeitalters aus dem Weg zu gehen oder ihn einfach in ein klassischen Schwarz-Weiß Schema einzuordnen.
Konkurrenz bekommen die regressiven muslimischen Moralapostel von christlicher Seite. Der christlicher Fundamentalismus scheint wieder aus seiner Mottenkiste gekrochen zu sein und vergiftet mit seinen lust- und modernefeindlichen Vorstellungen unser Zusammenleben. Die christliche Genügsamkeitslehre, welche schon Marx Mitte das 19 Jahrhunderts als „Opium für das Volk“ bezeichnet hat, erfreut sich gerade unter jungen Christ*innen, wie zum Beispiel der „Jesus Freaks Bewegung“, großer Beliebtheit, um die Probleme der heutigen Zeit zu erklären. Es wird propagiert, dass der Mensch einfach mit dem zufrieden sein sollte, was ihm täglich vorgesetzt wird, anstatt das schöne Leben im Hier und Jetzt einzufordern. Die vermeintliche Rückbesinnung auf traditionelle Werte wie Familie, Heteronormativität oder Entsagung der Sexualität scheinen Jugendliche in den letzten Jahren eher anzuziehen als abzuschrecken. Wie stark das Mobilisierungspotential dieser christlichen Rechten sein kann, kann am Beispiel Tea-Party-Bewegung in den USA oder dem homophoben Widerstand gegen den Baden-Württembergischen Bildungsplan 2015 veranschaulicht werden.
Mangelnde Beschäftigung mit den Produktionsverhältnissen und damit mit den Ursachen der gesellschaftlichen Widersprüche führt auch bei vielen (vermeintlich) Linken zu Lebensentwürfen und politischen Forderungen, die zumindest als fragwürdig bezeichnet werden können. Alles, was auf gesellschaftlichen oder gar privaten Reichtum oder Luxus zurückzuführen scheint, wird abgelehnt, ein Leben unter bescheidenen bis ärmlichen Bedingungen idealisiert. Der Kapitalismus wird zwar meist als das Grundübel der gesellschaftlichen Widersprüche erkannt, allerdings oft sein systemisches Prinzip übersehen und vielmehr eine Ansammlung von gezielt gegen das „Gemeinwohl“ handelnden Kapitalist*innen identifiziert. Banker und Manager werden für gesellschaftliche Misstände verantwortlich gemacht, nicht das System als Ganzes. Gleichzeitig wird das eigene, bescheidene und maßvolle Leben zum Vorbild für alle Anderen gemacht. Das Wesen der Tauschgesellschaft wird davon jedoch nicht verändert.
Die Erfahrung der Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Moderne und die ideologischen Reaktionen darauf sind also mannigfaltig und hängen unter anderem von kulturellem Umfeld, Klassenstandpunkt, nationaler Zugehörigkeit und natürlich auch von individuellen Vorlieben ab. Eins ist diesen Deutungsmustern jedoch wie erwähnt gemein: Sie postulieren eine scheinbar natürliche Form menschlichen Zusammenlebens, welche bedroht angeblich bedroht ist, um so zum einen die Entfremdungserfahrung der hochabstrakten kapitalistischen Moderne zu verarbeiten und sich gleichzeitig wieder Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Vor allem in Letzterem liegt das gefährliche Potential der verständnislosen Angst, mit der viele Menschen die Welt betrachten: Wenn sie Volk oder Nation als scheinbar natürliche Form des menschlichen Zusammenlebens von der Einwanderung und der zunehmenden Integration in den Weltmarkt gefährdet sehen, ist es kein Wunder, wenn wirtschaftlicher Chauvinismus und Ausgrenzung von Fremden als Lösung gesehen werden. In der Verklärung der eigenen Lohnarbeit zur „ehrlichen Arbeit“ und der Vorstellung, jeder Mensch müsse einer Nation zuzuordnen sein, findet sich eine Wurzel des Antiziganismus, dessen mörderisches Potenzial derzeit wieder im Wachsen begriffen ist. Menschen, die heute gegen muslimische Einwanderung hetzen, berufen sich nur zu gern auf den Schutz der Kultur des „Abendlandes“ vor Überfremdung. Dem selben Muster, eine bedrohte Natürlichkeit als Erklärung für die realen oder eingebildeten Zumutungen des Kapitalismus heranzuziehen, folgt die Idee eines Verfalls der Moral, die es beispielsweise bei „unachtsamen Konsument*innen“ oder „gierigen Spekulanten“ zu bekämpfen gälte. Häufig wird dabei die Realwirtschaft als „eigentlich“ guter Kapitalismus der abstrakten Finanzwirtschaft gegenübergestellt, die als parasitär, unheimlich und unnatürlich mystifiziert wird. Bereits ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgte hierbei regelmäßig die Identifikation des Finanzsektors mit dem Judentum, und auch heute werden regelmäßig implizit oder explizit antisemitische Bilder benutzt, um diese Idee zu illustrieren. Egal, welches Ideal der Natürlichkeit als Reaktion auf eine unverstanden gebliebene kapitalistische Moderne postuliert wird – Volk, Nation, ehrliche Arbeit, Kultur, Realwirtschaft, Gottheiten oder Moral – das zerstörerische Potential dieser Bausteine der Krisenideologien wird immer dann offensichtlich, wenn in ihrem Namen Politik gemacht wird. Die Flüchtlingspolitik der EU, die von den katastrophalen Bedingungen des Lebens im globalen Süden nichts wissen will, während sie „europäische Kultur“ und Wirtschaftsinteressen schützt, indem sie das Mittelmeer in Massengrab verwandelt, legt davon ein beredtes Zeugnis ab.
Rassistische Ausgrenzung in Zeiten der Krise
Seit der Schaffung des Schengenraums 1986 und dem damit verbundenen Wegfall von Grenzkontrollen innerhalb der EU verlagerten sich die Kontrolle von Grenzen immer mehr an die Außengrenzen der EU. Mit der Schaffung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex fand diese Entwicklung 2004 einen Höhepunkt. Seither wird systematisch versucht, illegalisierte Migration nach Europa möglichst vollständig zu unterbinden. Mit der Einführung des europäischen Überwachungssystem Eurosur im Dezember 2013 wird die Einreise nach Europa mit Hilfe von Drohnen, Sattelitensystemen und biometrischen Identitätskontrollen weiter verunmöglicht. Gleichzeitig ist Frontex in Zusammenarbeit mit den nationalen Grenzschutzbehörden im Mittelmeer verstärkt im Einsatz. Dabei geht es keinesfalls wie immer wieder behauptet darum, Menschenleben zu retten. Vielmehr gefährdet Frontex diese aktiv. So häufen sich in den letzten Monaten Meldungen über illegale Push-backs im Mittelmeer. Flüchtlingsboote werden bei diesen Aktionen über die EU-Grenzen zurückgedrängt, damit wird Menschen die Möglichkeit genommen, einen Asylantrag überhaupt erst zu stellen. Diese Methoden verstoßen gegen internationales Recht und haben oft tödliche Folgen. So starben bei einer griechischen Push-Back Aktion im Februar acht Menschen, nachdem die Küstenwache ihr Boot in türkische Gewässer zurückgedrängt und es zum Kentern gebracht hatte.
Durch die immer weiter ausgebaute Abschottung der EU Außengrenzen sind seit 2000 mindestens 23 000 Menschen ums Leben gekommen. Doch anstatt die menschenverachtende Asylpolitik der EU zu kritisieren, wird sie immer wieder mit zynischen Argumenten gerechtfertigt. Man könne schließlich nicht „alle“ aufnehmen und die meisten seien doch sowieso nur „Wirtschaftsflüchtlinge“, die „unseren“ Reichtum streitig machen wollen.
Dieser grundlegend vorhandene Rassismus wird in Zeiten der Krise noch durch die reale Angst vor ökonomischen Verlust verstärkt. Diese Angst mag verständlich sein, sie verkennt in ihrer Suche nach Sündenböcken und einfachen Erklärungen jedoch die tatsächlichen Ursachen der Krise. Zudem schlägt sie allzu leicht in offen Hass um. Dieser Hass ermöglicht erst eine Festung Europa mit all ihren Konsequenzen. Durch ihn werden Menschenrechte relativ, sie gelten nicht mehr als universelle Rechte für alle sondern nur noch für jene, die den „richtigen“ Pass besitzen. Diese Relativierung grundlegender Menschenrechte und die Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben sind katastrophale Zustände, welche die Achtung vor dem Menschen an sich in Frage stellen.
Doch nicht nur an den weit entfernten EU-Außengrenzen schlägt sich dieser Rassismus Bahn. Auch in Deutschland wird er mit ökonomischen Argumenten gerechtfertigt. So wettern deutsche Politiker*innen gegen angebliche „Armutszuwanderung“ aus Bulgarien und Rumänien und wollen, um dieser Einhalt zu gebieten, die Freizügigkeit innerhalb der EU einschränken. Gleichzeitig werden ärmere bzw. stärker von der Krise betroffene Staaten wie Bulgarien oder Griechenland für die Krise verantwortlich gemacht. Und auch innerhalb dieser Staaten greift ein starker Rassismus um sich. Zudem sind Migrant*innen stets die ersten Opfer der Krise. Sie arbeiten häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen und sind durch ihren unsicheren Aufenthaltsstaus erpressbar. Zudem sind viele Aufenthaltstitel an Arbeitsverhältnis gekoppelt. So haben allein in Griechenland seit Beginn der Krise 350 000 Migrant*innen, die zuvor teils Jahrzehnte dort gelebt haben, ihren Arbeitsplatz und damit auch ihren Aufenthaltstitel verloren.
Mit diesem rassistischen Hass geht eine Spaltung der von der Krise der Betroffenen aufgrund ihrer Herkunft einher. Gemeinsam mit einer nationalistischen Standortpolitik suggeriert dies, dass es einen Ausweg aus der Krise gäbe, wenn nur die jeweils als Sündenbock ausgemachte Gruppe nicht wäre. Diese Vorstellung ist gefährlich und grundlegend falsch. Selbst wenn Deutschland seine Grenzen vollständig für Einwanderung schließen könnte und keinerlei EU-Rettungsschirme gespannt werden würden, würde dies keine weitere Krise verhindern. Solange wir im Kapitalismus leben, leben wir mit der Wiederkehr von Krisen. Solange wir in Nationalstaaten leben, leben wir mit rassistischer Ausgrenzung
Antwort von Links!
Die kapitalistische Krise führt zu einer massiven Verelendung der europäischen Staaten im Süden. Aber auch in den anderen europäischen Staaten werden immer mehr Menschen zu „Überflüssigen“ gemacht, da es zu wenig Arbeitsplätze gibt. Gleichzeitig nimmt der Druck auf die verbliebenen Arbeiter*innen kontinuierlich zu. Arbeitslosigkeit auf der einen Seite, Burnout und Depressionen auf der Anderen.
Unsere Antwort auf die Krise ist die Abschaffung des Kapitalismus, der Kampf gegen die Festung Europa, gegen Staat und Nation! Wir erteilen allen reaktionären Kräften eine deutliche Absage – unsere Antwort auf Faschismus und Rassismus heißt aktiver Antifaschismus und Antirassismus!
Es ist Absurd: Die Gesellschaft geht an ihrem Überfluss zu Grunde. Weil zu viele Waren mit immer weniger Arbeitskräften hergestellt werden können, versinken immer mehr Bevölkerungsgruppen und Weltregionen in Marginalisierung und Verelendung. Die technischen und materiellen Voraussetzungen zur Errichtung einer Gesellschaft, die die Grundbedürfnisse aller Menschen weltweit befriedigt, sind aber objektiv gegeben. Nutzen wir sie und organisieren wir unser Zusammenleben radikal anders!
Für eine revolutionäre Perspektive: Auf die Straße zum 1.Mai!
Kämpfen wir zusammen für eine herrschaftsfreie, staaten- und klassenlose Weltgesellschaft!
revolutionäre 1. Mai Demonstration | 12:30 Uhr | Stühlinger Kirchplatz/Wannerstraße
Aufrufende Gruppen:
Aktion Bleiberecht
Antifaschistische Initative Freiburg
Anarchistische Gruppe Freiburg
[1] Wir verwenden die geschlechtsneutrale Form „*innen“, um neben dem männlichen und weiblichen Geschlecht auch Transgendern und anderen Rechnung zu tragen.