Liebe Zuhörer*innen,
ein Jahr ist nun seit dem Ende des sogenannten NSU-Prozesses vergangen. Doch von einer „umfassenden und lückenlosen Aufklärung“, die nach der Aufdeckung des NSU im Novermber 2011 versprochen wurde, sind wir auch heute noch weit entfernt.
Nazis morden weiter, arbeiten bei der Polizei und in der Armee, führen Todeslisten, klauen Munition und horten Waffen. Schattenarmeen, Prepper-Netzwerke und Nazis in Polizei und Armee lösen kaum eine Reaktion in Bevölkerung und Politik aus.
Konsequenzen, die helfen könnten rechten Terror in Zukunft unmöglich zu machen, oder zumindest zu erschweren wurden von Seiten des Staates nicht gezogen. Lediglich den Verfassungsschutz wollte man mit mehr Geld und mehr Befugnissen ausstatten, also genau die Institution, die so viel wie keine andere versuchte und immer noch versucht, der Aufklärung über den NSU Steine in den Weg zu legen. Der hessische Verfassungsschutz bspw. versah die eigene, geheime NSU-Akte mit einer Sperrfrist von 120 Jahren.
18 weitere Todesopfer rechter Gewalt, Verdachtsfälle nicht mitgerechnet, gab es seit der Aufdeckung des NSU und viele von ihnen wurden von der Bundesregierung bislang nicht als solche anerkannt.
Beim letzten Opfer, dem CDU-Politiker Walter Lübcke, kommt auch ein Teil des NSU-Netzwerks wieder zu Tage. Und der hessische Verfassungschutz:
Ein Freund von Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörder Lübckes, feierte 2006 zusammen mit den beiden Uwes des NSU seinen Geburtstag in Kassel, nur wenige Tage vor dem Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafe. Bei besagtem NSU-Attentat hielt sich der Verfassungsschützer Andreas Temme (in seinem Heimatort auch als Klein-Adolf bekannt) zur Tatzeit am Tatort auf und will nichts mitgekriegt haben. Zuletzt arbeitete Temme für das Kasseler Regierungspräsidium, dem Lübcke vorstand. Auch im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss fiel der Name Staphan Ernst mehrmals. Der Nazi und V-Mann Benjamin Gärtner, der vorgeladen wurde, weil er am Tattag von Yozgats Erordung mit seinem V-Mann-Führer Temme in Kontakt stand, bestätigte dort die Bekanntschaft zu Ernst. Der Verfassungsschutz hat seine Akte über Stephan Ernst für die Ermittlungsbehörden gesperrt. Außerdem soll er laut Verfassungsschutz seit 10 Jahren nicht mehr in Erscheinung getreten sein.
All dies wirft weitere Fragen bezüglich des Unterstützernetzwerks des NSU und des Mords an Lübcke auf. In beiden Fällen ist der Verfassungsschutz bislang nicht gewillt, an der Aufklärung mitzuhelfen, sondern untergräbt diese sogar. Das Verhalten des hessischen Verfassungsschutzes ist symptomatisch auch für andere Landesämter und das Bundesamt für Verfassungsschutz. Im Kampf gegen rechtsradikale Umtriebe ist der Verfassungsschutz Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Die Berliner Jura-Professorin Doris Liebscher sagte Ende Juni im ZDF, dass das V-Leute-System die Rechten vielerorts erst erstarken lasse. Seit Jahren, so Liebscher, werde der Verfassungsschutz mit mehr Geld und Kompetenzen ausgestattet, doch “die Antifa informiert uns oft viel besser”, während das Amt immer wieder durch Versagen auffalle.
Auch in der Politik ist der Aufklärungswille nachwievor eher verhalten. Manche Bundesländer, in denen der NSU aktiv war oder Kontakte dorthin pflegte, weigern sich bis heute einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Und als vor einem Jahr im Münchener Prozess das Urteil fiel, äußerten viele Politiker*innen auf die ein, oder andere Weise, dass der Gerechtigkeit nun genüge getan worden sei. Der Wunsch nach einem Schlussstrich schwang unweigerlich mit.
Doch einen Schlussstrich wird es mit uns nicht geben. Wir stehen heute hier und fordern weiterhin die restlose Aufklärung und Aufarbeitung des NSU-Komplexes, den Kampf gegen den gesellschaftlichen, wie auch institutionellen Rassismus und die Abschaffung des Verfassungsschutzes! Das sind wir den Opfern des NSU schuldig.
Von der AFD bis hin zu Nazi-Skinhead Terroristen wie Combat 18, bei denen der Mörder von Lübcke aktiv war, wird von einem Bürgerkrieg geredet. Er wird als Bedrohungsszenario dargestellt, herbeiphantasiert und auch herbeigewünscht. Dabei treibt sie nicht die Sorge um Sicherheit um, sondern dahinter steckt ein Plan.
Ein Plan eines führerlosen Widerstandes gegen die demokratischen Gesellschaften. Ein Plan ein System zu erschaffen, in dem nichts mehr existiert, was dem faschistischen Ideal widerspricht. Ein Entwurf dazu sind die sogenannten Turner-Tagebücher. Ein Standartwerk der White Supremacy Bewegung. Darin wird beschrieben wie einzelne Zellen von mordbereiten Nazis sich gegenseitig aufstacheln, Polizei und Militär unterwandern, einen Bürgerkrieg führen, der zum weltweiten Rassenkrieg wird, in dem alle nicht-Arier ausgerottet werden.
Der NSU kannte dieses Buch. Breivik und andere Naziterroristen kannten dieses Buch, Blood and Honor und jeder der bei Combat 18 mitmacht. Der Mörder Lübckes kannte es oder zumindest die Idee, die dahinter steckt. Und jeder der von der Bedrohung eines Bürgerkriegs oder von der Idee eines großen Austausches redet bestärkt Terror und Gewalt. Und viele mehr warten darauf, bis die Anschläge zum Flächenbrand werden um ihre gehorteten Waffen herauszuholen. Das ist nicht unsere Dystopie, dass ist das Ziel mordernder und Feuer legender Nazis
Und wenn selbst innerhalb der Polizei und Bundeswehr sich Menschen in diese Idee einordnen oder sich in Drohmails als NSU 2.0 bezeichnen, dann bekommen wir Angst davor, was noch alles passieren kann.
Doch müssen auch wir uns als Antifaschist*innen selbstkritisch an die eigene Nase fassen. Im vergangenen Jahr hat das Thema NSU auch von vielen von uns nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Weder konnten wir in dieser Zeit viel neue Informationen über den NSU und seine Netzwerke aufdecken, noch ist es uns gelungen, den Staat zur weiteren Aufklärung zu zwingen, und leider wurde dies auch viel zu selten versucht.
Letztes Jahr haben wir gefordert Rassismus auf der Straße, in den Institutionen und in unseren Köpfen zu bekämpfen um rechten Terror zu verhindern. Das gillt dieses Jahr noch immer und wir müssen weiter aktiv mit dem Thema umgehen und diesem Terror seine Quellen abgraben, die da sind: Hass und Rassismus, auch in der Mitte unserer Gesellschaft.
Statt unsere Rede mit einer antifaschistischen Parole zu beenden, wollen wir uns lieber an die Opfer des NSU erinnern: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michelle Kiesewetter.